Zeitweilige Übergangsregelung für die ständige Teilnahme am CSD!
Abschnitt 4
§ 5. Auswirkungen und Wahrnehmung
Die Gefahr einer Wiederholung des Streits aus 2014 und eine damit verbundene Spaltung schätze ich persönlich für sehr gering ein, denn die Gemengelage und die Voraussetzungen sind nun gänzlich anders. Durch die Umbenennung sollte eine neue Community-Einbindung und -Aktivierung erreicht werden – vor allem von lange verloren gegangenen Gruppen ganz im Sinne des ursprünglichen Stonewall abseits des allseits präsenten Homo-Establishments der Hauptstadt. Das ist gescheitert. Durch den Streit jedoch wurde im Nachhinein genau diese Community-Einbindung und –Aktivierung erreicht. Die Beteiligung verschiedenster und neuer Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen sorgt außerdem dafür, dass aktuelle Diskussionen – mit wenigen Ausnahmen – zukunfts- und zielorientiert geführt wurden. Was dabei rauskommt, kann niemand auch nur annähernd abschätzen. Die ersten interessanten Ideen wurden schon bei den gerade laufenden Round Tables des CSD e.V. zum Ausdruck gebracht:
- Etwa eine gänzlich neue CSD Parade – ohne Wagen;
- oder eine Fußdemo vorneweg und bunte Wagen hintennach;
- beruhigte und laute Bereiche innerhalb der Parade;
- eine thematische Blockbildung mit Stärkung kleiner Gruppen (und kleinen Wagen statt Sattelschleppern);
- eine Kombination aus Parade und stationären Aktionen entlang der Strecke;
- ein Sternmarsch;
- ein Anti-Stern-Marsch der in kleinen stationäre Aktionen/Festen in verschiedenen Kiezen in Berlin endet;
um nur einige zu nennen.
Die Offenheit und Beteiligung „neuer“ Aktivist_innen – sowohl erfahrene Menschen, die schon vor Jahren resigniert dem CSD den Rücken gekehrt haben, als auch junge Menschen, die bisher über den CSD desinteressiert oder verächtlich die Nase rümpften – macht mir persönlich Mut. Und die Erfahrung lehrt, dass der CSD ein reines Wahrnehmungsphänomen ist, das losgelöst von objektiven Kriterien stattfindet. Die Wahrnehmung bestimmt den CSD, sonst niemand. Die Wahrnehmung von Journalist_innen, von Teilnehmer_innen, von Zuschauer_innen, von Kritiker_innen und von Unterstützer_innen. Die Ergebnisse sind völlig widersprüchlich und das ist auch gut so. Genau diese unterschiedlichen Sichtweisen, Ansätze, Probleme und Auseinandersetzungen sind die Grundlage für das was eigentlich Anliegen einer Demonstration ist: die politische Meinungsbildung! Wenn der CSD zum aalglatten Disney-Lichter-Schaulaufen oder zur durchinszenierten Einheits-Parteitags-Parade verkommt, dann – aber erst dann – ist er politisch bankrott.
Wenn man Fotos von der CSD Parade in Berlin auswertet, tritt ein völlig anderes Bild zu Tage als die weithin verbreiteten Vorurteile bzw. die selektive Wahrnehmung der Teilnehmer_innen und Zuschauer_innen. Die überwältigende Mehrheit der Menschen, die in der Parade mitlaufen, haben kein Kostüm, keine Schilder. Sie kommen in „Zivil“ manchmal alleine, paarweise, in kleinen Gruppen, mit Kindern, zu Fuß oder mit Fahrrad, manchmal auch mit dem eigenen Hund (was unverantwortlich ist), genauso wie bei anderen Demos auch, ob für die Umwelt, gegen Rassismus oder für/gegen einen Flughafen.
Daneben gibt es hauptsächlich Einzelpersonen mit handgemalten Schildern oder Transparenten – die klassischen politischen Teilnehmer_innen, zum Teil etwas schüchtern und versteckt eher am Rande der Parade.
Dann folgen die Einzelpersonen oder Kleingruppen, die sich mit bedruckten T-Shirts, Kostümen, produzierten Schildern, Transparenten, Bollerwagen, geschmückten Rikschas, Bauchläden etc. kreativ und etwas aufwändiger in Szene setzen – manchmal politisch, manchmal selbstgefällig; manchmal als Gruppe durchdesigned, manchmal sehr individuell.
Außerdem finden sich organisierte Kleingruppen von Vereinen, Botschaften, Unternehmen, die eine Mischung aus inhaltlicher Botschaft und Organisationspräsenz (mit Vereins- und Firmenlogos, Gewerkschaftsweste, Nationalfahnen) schaffen.
Auch thematische Gruppierungen (etwa rund um das Thema Alter mit der vereinsübergreifenden Gruppe „Mit 50+ ist noch lange nicht Schluss“) existieren bereits. Doch sind spezielle Themenbereiche (etwa „Alter“ oder auch „LGBTIQ mit Behinderung“) nicht auf diese Gruppen beschränkt, sondern finden sich im Lauf der gesamten Parade wieder und werden vom CSD e.V. in bestimmten Bereichen auch spezifisch unterstützt.
Das bedauerliche an der Wahrnehmung dieser Gruppen ist, dass nur die wirklich „schrillen“ Beiträge den Zuschauer_innen überhaupt auffallen. Transparente und Schilder gehen in der Wahrnehmung nur allzu gern unter. CSD-intern sprechen wir hier vom „Lückeneffekt“. Damit sind die Beschwerden an den CSD e.V. gemeint, dass zwischen Sattelschlepper X und Sattelschlepper Y eine „Riesenlücke“ war, ungeachtet der Tatsache, dass in dieser „Lücke“ zig Gruppen mit besagten Transparenten, Schildern und politischen Botschaften unterwegs waren. Das ist ein Problem, an dem sowohl der CSD e.V. als auch die Medien arbeiten müssen. Das betrifft sogar sehr große durchkonzipierte Gruppen, wie etwa 2014 die LGBTIQ-Polizist_innen, die zur Europakonferenz der European Gay Police Association, die zum CSD Berlin stattfand. Die Gruppe war sehr präsent und bestand aus über 300 Personen. Die mediale Wahrnehmung fand jedoch hauptsächlich deshalb statt, weil das Brandenburgische Innenministerium (genauso wie die Bayern), das Tragen von Uniformen in der CSD Parade untersagt hatten und sich die betroffenen Polizist_innen über das Verbot hinwegsetzten.
Und schließlich gibt es noch die großen Wagen und organisierten Gruppen, die komplette Sattelschlepper-Designkonzepte – vom Wagenbanner, bis zum T-Shirt, der Parteifahne, Luftballons, Sonnenbrille, sogar der Sektflasche mit Werbe/Parteilogo umsetzen. Diese großen Wagen sind für die Mehrheit der Teilnehmenden und Zuschauer_innen eine der Hauptattraktionen und die am stärksten wahrgenommene Teilnehmerart. Fragen an Zuschauer am Rand zeigen allerdings gleichermaßen, dass eine beträchtliche Anzahl an Teilnehmenden und Zuschauer_innen aus der Community gerade diese Sattelschlepper kritisch sehen. Dabei werden sowohl Parteiensattelschlepper als auch Firmentrucks als „kommerziell“ – weil durchdesigned, teuer und werbeträchtig – wahrgenommen. Die betroffenen Gruppen selbst hingegen äußern sich eher kritisch über den jeweils anderen, während die eigene Teilnahme als politischer, inhaltsstärker und wichtiger gesehen wird. Anders gesagt: die Parteien rümpfen die Nase über die queeren Unternehmensgruppen, wegen der Firmenwerbung, der unpolitischen Musik und Partystimmung, dem Gratis-Sekt, der Kommerzialisierung und der Vereinnahmung durch die Wirtschaft. Umgekehrt werden Parteitrucks kritisch gesehen, wegen der Wahl- und Parteiwerbung, der unpolitischen Musik und Partystimmung, dem Gratis-Sekt, den Parteilogos und der Vereinnahmung des CSD durch die Parteipolitik. Beide Sichtweisen sind legitim, genauso wie die Teilnahme beider Gruppen legitim und wichtig ist. Dabei machen sich gerade die queeren Unternehmensgruppen sehr intensiv Gedanken, wie sie auftreten und welche Botschaften und Inhalte auf ihren Wagen, T-Shirts, Bannern etc. verbreitet werden und dabei spielen aktuell die Werbebotschaften (auf den nachfolgenden Bildern die Trucks der BVG und der dbPride/Deutsche Bank) eine eher untergeordnete Rolle.
Die Sichtweise auf den jeweils anderen ist dabei eines der Hauptprobleme, weil die Betrachtung rückwärtsgewandt ist und dadurch im Endeffekt nur die eigene „Werbung“ mit Verweis auf die anderen relativiert wird. Ganz selten steht überhaupt die Frage der politischen Aussage bzw. was alles auf dem Wagen, T-Shirts, Bannern etc. steht und was damit erreicht werden soll, im Vordergrund. Als positives Beispiel für eine „politische“ Teilnahme möchte ich deshalb einen Sattelschlepper anführen, der in der bisherigen Diskussion überhaupt keine Beachtung gefunden hat, der aber dem Konzept des CSD e.V., ALLE Bevölkerungsgruppen und Organisationen einzubinden und dazu zu bewegen, sich auf dem CSD queer-politisch zu positionieren und zu engagieren ziemlich gut entspricht: Der gemeinsame Wagen der Berliner Morgenpost, Kaiser’s und des Summerrave.
2013 und 2014 hatten diese Gruppen sehr politische und appellative Aussagen, sich am CSD zu beteiligen und sich politisch zu engagieren (gerade gegen das homopolitische Trauerspiel der Regierung). Damit leisten sie einen deutlichen Beitrag zur „politischen Meinungsbildung“, was die Aufgabe einer jeden Demonstration ist. 2014 wurde neben der Teilnahme selbst von der Morgenpost im Vorfeld auf youtube sogar noch mit einem Motivationsvideo zur Teilnahme am CSD und zum politischen Engagement (der Regierung den Gleichberechtigungsmarsch zu blasen) aufgerufen.
Man mag geteilter Meinung sein, ob das Trillerpfeifenkonzert angenehm, effektiv oder nur nervig ist, es hebt sich auf jeden Fall deutlich von den Disco- und Housebeats anderer Wagen ab und ist ein „klassisches“ Demonstrationsmittel. Dass bei der ganzen Außendarstellung das Eigenmarketing mit Logos und Sponsorhinweisen darüber hinaus noch sehr dezent (und weit unter den vom CSD e.V. geforderten Werbebeschränkungen) blieb, hebt sich ebenfalls deutlich positiv von anderen Wagen ab und zeigt, dass weniger manchmal mehr ist und dass dezentes Marketing nicht die aufgeregten, negativen Reaktionen bei den Betrachter_innen auslöst. Meine persönliche Hoffnung ist, dass sich mehr Gruppen, Unternehmen und große Organisationen, sich von solchen Vorbildern inspirieren lassen.
Lesen Sie morgen: Ziele und Finanzierung…
Alle Fotos sind von der CSD Parade 2014. Copyright: Fabian Böttcher, Gitti Dummer, W. Kastl, Michael Kleemann, Axel Pietras.
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