Empört Euch! (1)

24/05/2014 — Hinterlasse einen Kommentar

Alle reden von Gleichstellung und Akzeptanz, aber Deutschland fällt im internationalen Vergleich immer weiter zurück. Bauchgefühl geht vor Rechtsstaat.

Nr 5 - Stonewall Enpowerment Klein

LSBTI*-Menschen irgendwie pervers zu finden, sie als intolerante Meinungsterroristen und Totengräber der christlichen Werte abzustempeln, hat Saison. Die geistigen Ergüsse des katholischen Journalisten Matussek (»Ich bin wohl homophob; und das ist auch gut so«) oder des Ex-Arbeitsministers Blüm, die stolz ihre Abneigung gegen Schwule und Lesben in »Qualitätsmedien« artikulieren, machen die »neue Homophobie« genauso salonfähig, wie die kruden Thesen des schwäbischen Lehrers Gabriel Stängle, der mit seiner Petition gegen den Bildungsplan in Baden- Württemberg 200.000 Unterschriften sammelte und die grün-rote Landesregierung in die Knie zwang: Der Bildungsplan wurde auf 2016 – nach der nächsten Wahl – verschoben. In München, Kassel, Frankreich, ja der ganzen Welt demonstrieren hunderttausende Homogegner im Namen der Moral, der natürlichen – gottgegebenen – Ordnung und zum Schutz der Kinder vor Homo-Propaganda.

Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, spricht sogar von »besorgniserregenden Anzeichen« einer »neuen Homophobie«, die schon in der Schule beginnt und alle Gesellschaftsschichten durchzieht. Das alltägliche Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz wird ergänzt von einem starrköpfigen Gesetzgeber. Die CDU ignoriert geflissentlich mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstellung von Lesben und Schwulen wie auch zum Transsexuellengesetz, bestärkt von Merkels unwohlem Bauchgefühl, wenn diese an Adoptionen durch lesbische oder schwule Paare denkt. Die FDP hatte diesen Kurs, trotz behaupteter Homofreundlichkeit, immer mitgetragen, genauso wie die SPD sich entgegen ihrer vollmundigen Wahlversprechen nun der Unionspolitik unterordnet. Ein Trauerspiel.

Diskriminierung ist in der EU präsenter als gedacht

Laut einer aktuellen Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) ist die Situation in ganz Europa »sehr besorgniserregend «. Morten Kjaerum, Direktor der FRA erklärt, dass fast die Hälfte (47 %) der 93.000 befragten Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender in der EU im letzten Jahr persönliche Erfahrungen mit Diskriminierung oder Belästigung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung gemacht haben. Ein Viertel wurde Opfer von Angriffen oder Gewaltandrohung. Bei Transgendern liegt dieser Anteil sogar bei 35 %. Die Ergebnisse zeigen ein deutliches Nord-Süd und West-Ost-Gefälle innerhalb der EU. Während in den skandinavischen und Benelux-Ländern etwa ein Drittel der LSBT*- Menschen im letzten Jahr persönlich diskriminiert wurden, waren es in Ländern wie Litauen, Ungarn, Polen, Italien und Rumänien um die 60 %. Lesbische Frauen werden im EU-Schnitt häufiger diskriminiert (55 %) als schwule Männer (45 %).

Vor allem junge Menschen betroffen

Beunruhigend ist insbesondere die Tatsache, dass vor allem die jüngste Altersgruppe von 18 bis 24 am häufigsten (57%) aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert wurde. Angriffe und Androhung von Gewalt gegenüber LSBT*-Menschen sind ebenfalls bei der jüngsten Altersgruppe am häufigsten. Entgegen früherer Vermutungen, dass Intoleranz ein Problem des Alters ist, das sich früher oder später von selbst löst, zeigen die Studienergebnisse, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Erschreckende 91 % aller Befragten gaben an, dass sie im Laufe ihrer Schulzeit bis zum Alter von 18 Jahren negative Verhaltensweisen und Bemerkungen von Mitschülern beobachtet oder gehört haben. Diese Entwicklung ist relativ einheitlich und flächendeckend in der EU zu beobachten und schwankt kaum. Die vielzitierten und problematisierten »schwule Sau«-Pöbeleien in Schulen sind also tatsächlich ein massives Problem in allen europäischen Ländern.

Die negativen Erfahrungen durchziehen alle Lebensbereiche: Schule, Uni, Ausbildungsund Arbeitsplatz, Behörden, Gesundheitseinrichtungen, Öffentlichkeit. Gewalt gegen LSBT* findet sogar am häufigsten an einem öffentlichen Platz statt; die Täter sind in der Regel mehrere Personen, männlich und dem Opfer unbekannt, was für die Polizei äußerst ungünstige Voraussetzungen sind, um sie zu ermitteln. Dazu kommt es allerdings auch deshalb nicht, weil die Diskriminierung oder Gewalt den Behörden oft überhaupt nicht gemeldet wird. Nur 10 % meldeten Diskriminierung am Arbeitsplatz, in Bildungs-, Gesundheits- oder Sozialeinrichtungen; selbst bei Gewalttaten gehen weniger als ein Viertel der Opfer zur Polizei. Der Hauptgrund für die Nicht-Meldung dieser Vorfälle ist die Überzeugung, dass eine Anzeige »nichts bewirken würde«; an zweiter Stelle stand die Angst vor homo- und transfeindlichen Reaktionen der Polizei.

Die meisten weichen aus

Vor diesen Hintergründen ist es wenig verwunderlich, dass Verstecken und Vermeiden unter LSBT*-Menschen weit verbreitet ist. Besonders junge Menschen haben mit einem offenen Umgang mit ihrer sexuellen Identität Probleme. 67 % verschleierten in der Schule die Tatsache, dass sie schwul oder lesbisch sind. Mehr als zwei Drittel aller Befragten in der EU haben Angst, Händchen zu halten, und die Hälfte gab an, bestimmte Plätze oder Orte aus Angst vor Angriffen oder Belästigung zu meiden.

Gesetzlicher Schutz endet beim (Steuer-)Geld

Sowohl deutsches als auch EU-Recht sieht zwar einen Diskriminierungsschutz gesetzlich zwingend vor, allerdings nicht in allen Bereichen. Kirchliche Arbeitgeber (etwa von Krankenhäusern, Sozial- und Bildungseinrichtungen) sind davon ausgenommen. Hier gelten besondere Bestimmungen, es gibt kaum Tarifverträge, Betriebsräte und geringen Kündigungsschutz. LSBTI* Angestellte sind genauso betroffen wie Wiederverheiratete, die wegen »Ehebruchs« jederzeit auf die Straße gesetzt werden können. Betroffen sind etwa 1,3 Millionen Arbeitnehmende, Tendenz steigend, denn die niedrigen ungeregelten Löhne schaffen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber nicht kirchlichen Trägern. Dabei werden die Träger zu 90 % vom Staat aus Steuermitteln finanziert, der die günstigeren Träger gut und gern in Anspruch und die damit verbundene Diskriminierung bewusst in Kauf nimmt.

Relativ vage allgemeine Bestimmungen in der EU-Grundrechtscharta oder den Verfassungen einzelner Bundesländer, die Benachteiligungen aufgrund der sexuellen Identität verbieten, lassen sich außerdem kaum durchsetzen, weil konkrete Ausführungsgesetze fehlen. Das Allgemeine Gleichstellungsgesetz etwa gilt nur für Privatunternehmen, nicht aber für den öffentlichen Bereich und die Verwaltung. Der Staat hat sich hier also selbst eine Ausnahme genehmigt, während er den Unternehmen wie auch den Bürgerinnen und Bürgern im Land Akzeptanz gesetzlich aufzwingt. Aus den Bundestagsunterlagen ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber diese Lücke damals bewusst gelassen hatte, um etwa zu verhindern, dass homosexuelle Beamte und Staatsangestellte die selben Zulagen- und Hinterbliebenenansprüche stellen können wie heterosexuelle Staatsbedienstete. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Lücke mittlerweile zwar für grundgesetzwidrig erklärt, doch selbst das Land Berlin, das sich gerne als besonders fortschrittlich und tolerant gibt, versucht bei der Umsetzung des Urteils aus Karlsruhe bewusst zu tricksen: Statt der rückwirkenden Gleichstellung ab 2001 sollen Berliner Landesangestellte nur Ansprüche ab 2009 bekommen – und auch nur, wenn sie diese schon vorher angemeldet hatten. Beim Geld ist eben Schluss mit der Akzeptanz, obwohl es um vergleichsweise geringe Summen geht.


Teil 1    Teil 2

Dieser Artikel ist Teil 1 des Leitthemas des gerade erschienenen CSD Magazins 2014. Das komplette Magzain ist online unter http://issuu.com/csdmagazin/docs/csd_magazin_2014_online abrufbar.

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